Olivier Marboeuf

Olivier Marboeuf lebt und arbeitet in Rennes, FR

 

Wer hat das Recht, in Europa zu leben? Wem wird hier ein wahres und würdiges, ein gutes Leben gewährt? Wer entscheidet darüber? Wen wollen wir hören? Geflüchtete Stimmen beginnen zu reden. Aus dem Süden des Nordens, aus dem Osten des Westens (1), von unbekannten Orten aus sprechen und über-sprechen (2) sie, berichten von der permanenten Gewalt, die Tag um Tag Leben bedroht, Leben, die nicht zu zählen scheinen. Sie sprechen über und über-sprechen Widerstand, Fürsorge und Kommunikation – auch von Wut. Sie erfinden Werkzeuge und Wege, um am Leben zu bleiben. Sie sprechen über extreme Wachsamkeit, Paranoia. Und von Freude. Aber sie sind nicht da, um Zeugnis abzulegen. Es mangelt nicht an Aussagen von Zeug:innen, nicht an Polizei. Sie erfinden Geschichten, denn sie schlafen nie. Sie pflanzen einen Garten auf dem toxischen Boden der Festung Europa. Jedes Klangwerk transportiert mit den Kniffen der Sprache und des Geschichtenerzählens das Fragment eines lebendigen Manifests, dessen rechtliche und spekulative Strategien von hybriden Gruppen – Aktivist:innen, Bewohner:innen, Künstler:innen, Autor:innen, Archivar:innen, Forscher:innen, Anwält:innen und anderen Rechtsexpert:innen – erdacht wurden. Doch keine:r der Teilnehmenden hat Autorität über andere. Sie bilden gemeinsam eine nächtliche Kakofonie der Lebensformen. Derweil tauchen wir in die polyglotte Versammlung ein, die unter der Leitung einer Geschichtenerzählerin und ihrer eigenen Poetik debattiert. Gleichwohl existieren die Stimmen nicht. Sie sprechen aus ihrer Nichtexistenz zu uns. Nennt sie, wie ihr wollt. Nennt sie Atemzüge.

Olivier Marboeuf

(1) „The South of the North and the West of the East“ ist der Titel von Kapitel 10 von Walter Mignolos The Politics of Decolonial Investigations, Durham 2021.

(2) „de-speak“ ist meine englische Übersetzung des haitianisch-kreolischen Begriffs déparlant, der „wahnhaft“, „wahnsinnig“ oder „schimpfend“ bedeutet und sich auf die doppelte Operation bezieht, für ein emanzipatorisches Kino (cinéma déparlant) zu sprechen und dabei notwendigerweise die Bedeutung dieser Rede zu verschlüsseln. Siehe meinen Essay „Towards a De-Speaking Cinema [1] (A Caribbean Hypothesis)“, The Living Journal, Open City Documentary Festival, 2021, opencitylondon.com/non-fiction/issue-3-space/towardsa-de-speaking-cinema1-a-caribbean-hypothesis/ (zuletzt aufgerufen am 7. April 2022).

Ausstellungen

Not Fully Human, Not Human at All, 2021, Kadist, Paris (FR)

6th Ghetto Biennale, 2019, Port-au-Prince (HT)

5th Ghetto Biennale, 2017, Port-au-Prince (HT)

Fragments of Repair, 2017, BAK, basis voor actuele kunst, Utrecht (NL)