Antonio Recalcati, Enrico Baj, Erró, Gianni Dova, Jean-Jacques Lebel, Roberto Crippa

Antonio Recalcati lebt und arbeitet in Mailand, IT / Enrico Baj † / Erró lebt und arbeitet in Paris, FR / Gianni Dova † / Jean-Jacques Lebel lebt und arbeitet in Paris, FR / Roberto Crippa †

Das Grand tableau antifasciste collectif [Großes kollektives antifaschistisches Gemälde, 1960] entstand vor dem Hintergrund eines grausamen Verbrechens: der Folterung und Vergewaltigung von Djamila Boupacha, einer Aktivistin der algerischen Front de Libération Nationale (FLN), die 1960 zu Unrecht eines Bombenattentats in Algier bezichtigt wurde.

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Antonio Recalcati, Enrico Baj, Erró, Gianni Giancarlo Dova, Jean-Jacques Lebel, Roberto Crippa, Grand tableau antifasciste collectif [Großes kollektives antifaschistisches Gemälde], 1960, Öl und Collage auf Leinwand, 400 × 500 cm © Antonio Recalcati, Erró, Jean-Jacques Lebel, Roberto Crippa / VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Erben Enrico Baj, Gianni Dova

Der Künstler und engagierte Antikolonialist Jean-Jacques Lebel initiierte das Projekt: Auf die linke Seite der Leinwand malte er über deren gesamte Höhe einen transkulturellen Totempfahl, gekrönt mit einer kaum erkennbaren Darstellung des Antlitzes und der Silhouette Boupachas. Die beiden flüchtig skizzierten Soldatenfiguren sind das Werk des Mailänder Malers Enrico Baj. Von Lebel stammen die Reproduktion einer Madonna mit Kind, die Wörter „la morale“ [die Moral] und „la patrie“ [das Vaterland] sowie zwei Ausschnitte aus italienischen Zeitungen mit dem Kopf des Kardinals Ottaviani, eines Verteidigers der „zivilisatorischen“ Mission des Kolonialismus im Maghreb. Etwas weiter rechts fügte Baj einen kleinen, runden Kopf hinzu. Darüber malte Roberto Crippa, in dessen Atelier das Werk entstand, ein schwarzes Hakenkreuz, um damit auf die zunehmend gestapohaft anmutenden Übergriffe der französischen Sicherheitskräfte während und nach der Schlacht um Algier 1957 zu verweisen – eine entscheidende Anklage gegen die rassistische Ideologie von Nationalsozialismus und Kolonialismus.

Lebel ergänzte die Collage später um ein Exemplar des Manifest der 121, die Deklaration über das Recht zur Kriegsdienstverweigerung im Algerienkrieg. Hinzu kamen große, weiße, anthropomorphe Gestalten von Gianni Dova und Körperabdrücke auf grünem Grund von Antonio Recalcati. Von Lebel stammen die Schlagwörter „Setif“ und „Constantine“: die Schauplätze eines Massakers im Jahr 1945 und des Beginns der Kolonisation Algeriens im Jahr 1830. Am Vorabend der Eröffnung der Ausstellung Anti-Procès 3 in der Galleria Brera in Mailand im Juni 1961 vollendete der isländische Künstler Erró das Werk mit einer Gruppe der für ihn typischen schreienden Köpfe.

Vierzehn Tage nach der Vernissage rissen Carabinieri mit einer Beschlagnahmeverfügung des Staatsanwalts Luigi Costanza das Tableau aus seinem Rahmen, legten es wie ein großes Taschentuch zusammen und brachten es zur örtlichen Polizeistation. Das stark beschädigte Werk wurde den Künstlern erst 27 Jahre später zurückgegeben. Seitdem wurde es fortlaufend ausgestellt, zum Beispiel in Paris, Hamburg, Wien, Madrid und 2008 auch im Museum für Moderne Kunst in Algier.

Blandine Chavanne

Ausstellungen

Lost, Loose and Loved: Foreign Artists in Paris 1944–1968, 2018, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid (ES)

Présenter l’irreprésentable, 2014, Musée d’arts de Nantes, Nantes (FR)

Les désastres de la guerre. 1800–2014, 2014, Musée du Louvre-Lens, Lens (FR)

Les Artistes internationaux et la révolution algérienne, 2008, Salle Ibn Khaldoun, Algiers (DZ)

Face à l’Histoire 1933–1996, 1996, Le centre national d’art et de culture Georges-Pompidou, Paris (FR)

La France en guerre d’Algérie, 1992, L’Hôtel des Invalides, Paris (FR)

Anti-Procès III, 1961, Pinacoteca di Brera, Mailand (IT)