Programm
The Digital Divide
Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie (Haus 22)
Ruschestraße 103, 10365 Berlin
Englisch, mit Simultanübersetzung ins Deutsche
Der Besuch ist ohne Voranmeldung möglich, der Eintritt ist frei. Die Konferenz wird per Livestream übertragen.
Der Livestream wird von der Berliner Hochschule für Technik (BHT) konzipiert und realisiert.
Kuratiert von: Kader Attia und Noam Segal
Mit: Apryl Williams, Evgeny Morozov, Jean Lassègue, Katrin Becker, Maithu Bùi, Noel W Anderson, Ramak Molavi, Shazeda Ahmed, Tarek El-Ariss
Die kulturelle Logik des Informationszeitalters beruht auf einer Umkehrung des Blicks. Der Blick, so schlug Jonathan Crary 1999 vor, „ist sowohl Gegenstand der Aufmerksamkeit als auch imstande, aufmerksames Verhalten zu überwachen, aufzuzeichnen und zu verknüpfen.“(1) Eine aktualisierte Version dieser Feststellung könnte besagen, dass dieser Blick nun multidirektional ist und angeeignet, abstrahiert, abgeleitet und gekapert wurde.
Tief verstrickt in die Ära der algorithmischen Governance werden wir dazu verleitet zu glauben, dass unsere Realitäten sich immer ähnlicher werden. Aufgrund von Verhaltensschleifen, die von vorausschauenden Technologien für uns erstellt werden, ist die Verflachung und Homogenisierung von Erfahrung und Kultur zweifellos eine Realität. Gleichzeitig bleiben die Erfahrungen differenziert – zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen. Die Modellierung künftiger Handlungen auf der Grundlage früheren Verhaltens hindert Individuen daran, den zufälligen Umständen ihrer Geburt zu entkommen. Für viele ist das Verschwinden der Unterschiede in Wirklichkeit eine Wiedereinführung der Ungleichheit.
Diese Konferenz befasst sich mit einer Reihe von Fragen im Zusammenhang mit der algorithmischen Governance. Die Teilnehmer:innen setzen sich mit den oligarchischen Zügen von Krypto-Anwendungen auseinander und untersuchen, wie sich die Blockchain von drei wesentlichen Dimensionen des Rechts – Sprache, Territorium und Körper – emanzipiert. Dies bricht grundlegend mit der Art und Weise, wie wir das Recht wahrnehmen sowie seine Auswirkungen auf die Vorstellungen von Subjektivität, Demokratie, Regulation und Zirkulation von Geld.
1 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho, Frankfurt a. M. 2002.
Programm
14:30 Uhr
Begrüßung von Kader Attia
14:45–15:10 Uhr
Vortrag: Dezentralisierung als Entkörperlichung
Mit
Katrin Becker
Die Blockchain-Technologie verspricht mit ihren Kerneigenschaften von Dezentralisierung, Unveränderbarkeit und Transparenz, die einzelnen Bürger:innen von potenziell korrupten Institutionen und datenhungrigen Unternehmen zu befreien und administrative und rechtliche Prozesse zu beschleunigen und zu vereinfachen. Die Idee ist, selbstsouveräne Individuen in die Lage zu versetzen, ihre wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Angelegenheiten in dezentralen autonomen Organisationen oder Netzwerkstaaten zu regeln und so eine bessere und gerechtere Welt zu schaffen. Katrin Becker zeigt in ihrem Vortrag auf, inwieweit diese Versprechen auf dem territorial gebundenen rechtlichen und politischen Korpus oder dem menschlichen Körper beruhen. Sie argumentiert, dass gerade diese Körper für Fragen der Gerechtigkeit und Demokratie wesentlich sind – und dass es ihre Unsichtbarkeit ist, die Visionen von Blockchain-Gerechtigkeit zwischen Utopie und Myopie gefangen hält.
15:10–15:50 Uhr
Keynote: Tech-Utopien nach dem Solutionismus
Mit
Evgeny Morozov
Wenn uns der Wirbel um Kryptowährung oder Web3 (das künftige Netz dezentraler Blockchain-Technologien) etwas lehrt, dann ist es die Sehnsucht nach einer technischen Utopie jenseits dessen, was uns Big Tech derzeit bietet. Evgeny Morozov wird die beiden Visionen kritisch beleuchten und gemeinsame lösungsorientierte Themen sowohl im heutigen Netz der Big-Tech-Plattformen als auch im künftigen Netz der dezentralen Blockchain-Technologien finden. Er wird sich auf die Frage konzentrieren, was an der Idee der Techno-Utopie noch zu retten ist, wie sie, wenn überhaupt, mit den politischen Utopien des 20. Jahrhunderts zusammenhängt, und auf welche Art von ideologischen/theoretischen Inhalten wir aufbauen könnten, wenn der Solutionismus verworfen würde.
Es folgt ein Q&A moderiert von
Katrin Becker
16:15–16:30 Uhr
Pause
16.30–18 Uhr
Panel: Algorithmische Überwachung und die Frage der automatisierten Gerechtigkeit
Mit
Ramak Molavi
Shazeda Ahmed
Moderation
Kader Attia
Wie hat sich die Diskussion über die digitale Kluft entwickelt, was versteht man darunter, und wie wird diese Kluft durch den zunehmenden Einsatz von künstlicher Intelligenz in allen Lebensbereichen verschärft? Ausgehend von automatisierten Gerichtstechniken, die in China eingesetzt werden, führen Ramak Molavi und Shazeda Ahmed ein Gespräch über Menschenrechte im Hinblick auf die algorithmische Überwachung. Molavi spannt den Bogen vom ungleichen Zugang zur Technologie über die algorithmische Kontrolle von Arbeitnehmer:innen und Bürger:innen bis hin zur zentralen Rolle, die die Überwachung in dieser Entwicklung spielt. Die beiden werden auf die Beziehungen zwischen digitaler und sozialer Ungleichheit eingehen. Wie könnte die Automatisierung von Gerichtssälen mit einer repressiven Regierungsführung zusammenwirken und möglicherweise die Ziele der Gerechtigkeit, die diese Technologien zu erreichen vorgeben, vereiteln? Wie können Online-Prozesse gestaltet werden, um Mechanismen der Rechenschaftspflicht und andere Fragen, die sich aus der Kombination von künstlicher Intelligenz und Recht ergeben, einzubeziehen?
Kommentar: Soziale und technische Wiedergutmachung
Von
Apryl Williams
Apryl Williams konzentriert sich in ihrer Forschung auf Rassismuserfahrung in digitalen Räumen. In ihrem Beitrag wird Williams ihre Sicht auf die Auswirkungen des weit verbreiteten Einsatzes von künstlicher Intelligenz in der Überwachungsindustrie in den USA und deren Voreingenommenheit darlegen sowie mögliche reparative Lösungen für dieses Problem vorschlagen.
18–18:15 Uhr
Pause
18:15–19:45 Uhr
Panel: Widerstand gegen die algorithmische Kolonisierung
Mit
Noel W Anderson
Maithu Bùi
Tarek El-Ariss
Moderation
Noam Segal
Um über den Widerstand gegen koloniale Zustände, die durch Algorithmen entstehen, nachzudenken, diskutieren die Referent:innen künstlerische Produktionsmittel, die sich der Computervision und dem algorithmischen Blick entziehen. Ihre Strategien reichen von materiellen Ansätzen bis hin zur Übernahme von Leaks, Hacks und Code-Sprache, die in technologischen Präzedenzfällen bei digitalen Minderheitenkulturen zum Einsatz kommen.
19:45–20:30 Uhr
Epilog: Die Kluft überwinden. Kontrafaktisch denken
Mit
Katrin Becker
Jean Lassègue
Diese Konferenz ist Teil des Diskursprogramms der 12. Berlin Biennale. Ausgehend von der Restitutionsdebatte untersucht es, wie Kolonialismus und Imperialismus in der Gegenwart fortwirken.