Programm
From Restitution to Repair
Akademie der Künste, Hanseatenweg
Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
Englisch, mit Simultanübersetzung ins Französische
Der Besuch ist ohne Voranmeldung möglich, der Eintritt ist frei. Die Konferenz wird per Livestream übertragen.
Mit: Albert Gouaffo, Bénédicte Savoy, Ciraj Rassool, Dan Hicks, Deneth Piumakshi Veda Arachchige, El Hadji Malick Ndiaye, Jihan El-Tahri, Paz Guevara, Rolando Vázquez, Sophie Schasiepen, The School of Mutants (Hamedine Kane, Lou Mo, Stéphane Verlet Bottéro, Valérie Osouf), Tuấn Andrew Nguyễn, Uta Kornmeier
Ein großer Teil des präkolonialen afrikanischen Kunst- und Kulturerbes wird in europäischen Museen ausgestellt und verwahrt ‒ unerreichbar fern von den Gesellschaften, aus denen es stammt, und die ein Recht auf ihr Erbe haben. Seit der Veröffentlichung des Berichts über die Restitution afrikanischer Kulturgüter von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im Jahr 2018 steht die Restitutionsdebatte wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Während dieser Diskurs weltweit Aufmerksamkeit erlangt, läuft er jedoch auch Gefahr, institutionalisiert und vereinfacht zu werden. Die Machtverhältnisse scheinen sich langsam zu verlagern, da westliche Museen und Staaten die Notwendigkeit, ihre Sammlungen zu überprüfen und zurückzugeben, nicht mehr von sich weisen können. Aber unter welchen Bedingungen finden diese Restitutionen statt? Und welche generellen Auswirkungen sind damit verbunden? An ihren Ursprungsorten hat die Abwesenheit der Objekte traumatische Spuren hinterlassen, die auch nach der Restitution fortbestehen werden. Die psychologischen Dimensionen des Verlusts von Kulturgütern werden sichtbar, wenn etwa die Ausstellung der Objekte in Afrika dem Vorbild westlicher Museen folgt. Wie kann Restitution über die materielle Geste der Rückgabe kultureller Artefakte hinausgehen? Wie können Kustod:innen den lange exilierten Objekten Träume und Leben verleihen? Und wie steht es, über die Restitution von Objekten hinausgedacht, um die Rückgabe von menschlichen Überresten?
In dieser Konferenz dient die Restitutionsdebatte als Ausgangspunkt für Dialoge, die auf eine Dekolonisierung von Kunst und Kultur sowie eine antikoloniale Erinnerungskultur hinwirken. Restitution soll als eine Form des kulturellen Widerstands in das breitere Konzept der Reparatur von individuellen und gesellschaftlichen Traumata (wie von Kader Attia entwickelt) eingebunden werden. Die Teilnehmer:innen untersuchen die psychologischen Dimensionen des verlorenen afrikanischen Kulturerbes und das Paradox der nachahmenden Museografie. Darüber hinaus prüfen die Beiträge die Möglichkeit einer Ontologie der Restitution als kosmogonische, politische und philosophische Neuerfindung.
Kuratiert von: Kader Attia und Marie Helene Pereira
© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

© Silke Briel

Tag 1: Das Paradoxon der Restitution
Samstag, 10.9.2022
15 Uhr
Begrüßung und Einleitung: Kader Attia und Marie Helene Pereira
15:15–16 Uhr
Keynote: Restitution bis zum Erbrechen?
Mit
Bénédicte Savoy
Seit 2017 scheint in Europa (zumindest in vielen Ländern) alles oder fast alles über die materielle und ideelle Restitution von Kulturgütern gesagt worden zu sein, die im 19. und 20. Jahrhundert aus kolonialen Kontexten nach Europa verbracht wurden. Die materielle und rechtliche Rückgabe der 1892 von der französischen Armee beschlagnahmten und seitdem in Paris ausgestellten königlichen Schätze von Abomey – 2,5 Tonnen Erinnerungsgeschichte – an die Republik Benin im Jahr 2021 markierte den Beginn einer neuen geopolitischen Zeit im Umgang mit dem afrikanischen Erbe. Bis heute haben mehr als 200 000 Menschen die Ausstellung Benin Art from Yesterday to Today, from Restitution to Revelation [Kunst in Benin gestern und heute. Von der Restitution bis zur Offenbarung] in Cotonou besucht. Es ist mit dieser spektakulären Restitution deutlich geworden, dass die reale, materielle Rückkehr von symbolisch und historisch bedeutenden Kulturgütern jene „tektonischen Verschiebungen“ auslösen kann, die Felwine Sarr und ich 2018 im so genannten Sarr-Savoy-Bericht beschrieben haben. Solche kulturellen Restitutionen sind nicht nur eine Angelegenheit für Museen und Kulturbehörden. Sie wirken sich auch auf die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Sphäre aus. Nun fragen sich einige: Wenn alles über Restitutionen gesagt wurde, manche afrikanische Länder ihren Kampf bereits gewonnen und damit den geopolitischen Weg für kulturelle Justiz geöffnet haben, warum wird das Thema dann immer noch aufgegriffen? Ist es nicht irgendwie bevormundend und repräsentiert es nicht lediglich das Anliegen einer kleinen politischen Elite sowohl in Afrika als auch in Europa? Und was ist mit der offensichtlichen politischen Instrumentalisierung des Themas? Über diese Fragen soll es im Vortrag gehen.
16–17:30 Uhr
Panel: Ausstellungen neu denken. Die Herausforderungen der Mimikry durch Restitution
Mit
Albert Gouaffo
Dan Hicks
El Hadji Malick Ndiaye
Moderation
Paz Guevara
Aus der praktischen Umsetzung der Restitution heraus ergeben sich neue Fragen. Die Herausforderungen der Rückführung werden beispielsweise in der psychologischen und epistemologischen Dimension der enteigneten Kulturgüter sichtbar: wenn beispielsweise eine Ausstellung der restituierten Objekte das Modell der westlichen Museen nachahmt. Wie kann Restitution über das Besitzrecht und die materielle Zurschaustellung hinausgehen und die Modalitäten einer lebendigen Kultur und ihres Wissens zurückgewinnen? Wie kann man die epistemische Gewalt der kolonialen modernen Kategorien, nach denen die Werke in europäischen Museen geordnet – objektiviert, enthistorisiert und angeeignet – wurden, konfrontieren und reparieren? Wie können Kustod:innen lange verschollene kulturelle Werke resozialisieren, sodass sie Leben und Träume in die gegenwärtigen afrikanischen Gesellschaften bringen? Die Gäste dieses Panels diskutieren über Ausstellungspraktiken in Afrika im Zusammenhang mit restituierten kulturellen Werken und setzen sich kritisch mit der Nachahmung der kolonialen Museologie und der Bedeutung der Vorstellung von Wiederaneignungsprozessen innerhalb und außerhalb der Museumsökologie auseinander.
17:30–18 Uhr
Pause
18–19:30 Uhr
Panel: Mehr als Überreste. Der Umgang mit dem Vermächtnis des wissenschaftlichen Rassismus
Mit
Ciraj Rassool
Deneth Piumakshi Veda Arachchige
Uta Kornmeier
Moderation
Sophie Schasiepen
Was bedeutet es, wenn wir über die Rückführung von Menschen sprechen, deren Körper in musealen, akademischen und privaten Sammlungen aufbewahrt werden und die von Forscher:innen, Ärzt:innen, Militärs, Siedler:innen und dergleichen vereinnahmt wurden, um eine rassistische Ordnung zu errichten, aufrechtzuerhalten und zu erweitern? Die Gäste dieses Panels diskutieren die Ziele solcher Verhandlungen aus akademischen, künstlerischen und aktivistischen Perspektiven.
Tag 2: Restitution als Neuerfindung
Sonntag, 11.9.2022
15–15.45 Uhr
Keynote: Die Erde wiederentdecken, die Gegenwart überwinden, anders wissen
Mit
Rolando Vázquez
Die Vorstellung des Zeitgenössischen ist mit kulturellen Praktiken verschmolzen, die die Erde aufzehren und die Beziehungswelten von anderen über die koloniale Kluft hinweg leugnen. Wie lässt sie sich dekolonisieren? Kann zeitgenössische Kunst ein Ort der dekolonialen Heilung werden und konkrete Praktiken der Reparatur fördern? Rolando Vázquez ruft dazu auf, zeitgenössische Paradigma der Bejahung des Neuen und der Trennung von der Erde zu überwinden. In diesem Vortrag befasst er sich mit ästhetischen und epistemischen Aspekten von Restitution und Rückkehr und fragt, ob der Zugang zu Übertragungs- und Verstehensweisen eine Alternative zum Zugang zu Objekten sein könnte. Wie kann die Restitution zu einer Bewegung werden, die sich auf relationale und ästhetische Praxen beruft? Wie können sich epistemische und ästhetische Formen weg von der individuellen Persönlichkeit hin zu relationalen Praxen der Gemeinschaftlichkeit und des Erdendaseins verlagern?
16:15–16:30 Uhr
Pause
16:30–18 Uhr
Künstler:innengespräch: Deinstitutionalisierung des Archivs. Über Geschichte versus Erinnerung
Mit
Jihan El-Tahri
The School of Mutants (Hamedine Kane und Stéphane Verlet-Bottéro)
Tuấn Andrew Nguyễn
Moderation
Marie Helene Pereira
Ausgehend von ihren Beiträgen zur Ausstellung der 12. Berlin Biennale Still Present! haben die Künstler:innen Jihan El-Tahri, The School of Mutants und Tuấn Andrew Nguyễn an einer wirkungsvollen Intervention in das materielle Archiv gearbeitet. Sie betonen die Notwendigkeit, die „Archive der Menschen“, die man in diesem Fall als kollektives Gedächtnis übersetzen könnte, zu durchsuchen und auszugraben. El-Tahri hinterfragt den Zugang zu Archiven und die Art und Weise, wie diese in postkolonialen Kontexten zur Währung werden. Nguyễn konzentriert seine Arbeit und Forschung auf das Schaffen von Erzählformen, die Räume für Gespräche und die Selbsterzählung von nicht erzählten oder vielmehr vergessenen Geschichten eröffnen. Die von The School of Mutants vorgeschlagene Idee der Mutationen lädt uns dazu ein, verschiedene Formen von Imperialismus, in denen auch das bestehende Verständnis von Archiv und Archivierung verankert ist, zu überdenken. In diesem Gespräch wird erörtert, wie Restitutionsdebatten zu einer Reflexion über den Zugang zu Archiven und über deren materielle Nachhaltigkeit führen können und wie die Sprache des Archivs durch verschiedene Ökologien der Erinnerung neu erfunden werden kann. Die letzte Frage in diesem Zusammenhang lautet: Inwieweit lassen wir uns auf bevorstehende und wirksame Akte der Reparatur ein?
18–18:15 Uhr
Pause
18:15–19:30 Uhr
Lecture-Performance: The School of Mutants
Mit
The School of Mutants (Hamedine Kane, Lou Mo und Valérie Osouf)
The School of Mutants ist nach der University of Mutants [Universität der Mutant:innen] benannt, die 1977 in Gorée, Senegal, gegründet wurde und sich für einen nicht-hierarchischen Unterricht und die Entkolonialisierung akademischer Episteme einsetzte. Die Gruppe verbindet diese kurzlebigen Erfahrungen mit den Archiven anderer pädagogischer Utopien dieses Jahrzehnts sowie mit literarischen und theoretischen Reflexionen über die Figur der Mutant:innen. Die Lecture-Performance lädt dazu ein, die Disziplinen von der Geschichte bis zur Poesie zu überwinden und Erzählungen sowie philosophische und spirituelle Gesten der Wiedergutmachung neu zu erfinden.
Diese Konferenz ist Teil des Diskursprogramms der 12. Berlin Biennale. Ausgehend von der Restitutionsdebatte untersucht es, wie Kolonialismus und Imperialismus in der Gegenwart fortwirken.