12. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst

Messy Glossary

Begriff

Dekolonial

Texte

Vorgeschlagen von Arootin Mirzakhani 

Ein Rückgängingmachen abgeschlossener Gewaltakte – Präfix:De+Gewaltakt:Kolonialismus – macht aus sprachlicher_historischer Perspektive Sinn, ist semantisch jedoch zu schnell. Was, wenn Präfix und Wortstamm nur dazu in der Lage sind Bedeutung zu archivieren. Wie regulieren_unterstützen unsere Rechtssysteme, Förderungsmechanismen und Erwirtschaftungsstrukturen Progressivität. Wie ist die Institution:Kunst und deren Verwaltung durch kuratorische und vermittelnde Arbeitskraft eine Erweiterung dieser Regulatorien. Wie sind Kunstinstitutionen überhaupt in der Lage über ein Rückgängigmachen von Gewaltakten zu sprechen, wenn sie selbst durchtränkt sind von betriebsblinder Macht_Gewalt. Ist Dekolonialismus nicht die Weiterführung linearer Denklogiken hegemonialer Strukturen, wenn das Sprechen über De_Kolonialismus Kunstinstitutionen in ihrer Struktur nicht beeinflusst. Was, wenn das Fragen nach und Finden von neuem Vokabular nicht zielführend ist. Was, wenn wir intellektuell-diskursive Räume nicht mehr brauchen. Formen des Handelns, die sich auf Gewalt verhalten müssen. Formen des Sprechens, die auf im_materielle Verhältnisse, Mitveranwortung und Integrität setzen können. Formen des Zuhörens, die Egos und Gefühle bereits mitdenken und mitverhandeln. Formen des Schauens, wo unsere Blicke die öffentlichen und privaten Barrieren durchdringen. Formen des Riechens, wo Geruch und Erinnerung Orte archivieren. Formen des Schmeckens, wo Erde, Luft und Wasser wesentlich sind für lokale Gesellschaften. Wir brauchen handlungsorientierte Praxen, welche durch das Machen anders denken.

Vorgeschlagen von Léopold Lambert

Angesichts der Vereinnahmung des Verbes „dekolonisieren“ für die liberale Reform kolonialer Institutionen („Museen dekolonisieren“, „Universitäten dekolonisieren“ …, bald werden wir noch „die Polizei dekolonisieren!“), ist es wichtig, an den bahnbrechenden Aufsatz von Eve Tuck und K. Wayne Yang, Decolonization is not a metaphor [Dekolonisierung ist keine Metapher], zu erinnern. […] Der Begriff „dekolonial“ bezieht sich vor allem auf das Projekt der Rückgewinnung Indigener Souveränität auf dem Land, das die Kolonisator:innen gestohlen haben und auf dem sie verschiedene Regime des Extraktivismus sowie individualisiertes und spekulatives Eigentum durchgesetzt haben. Das dekoloniale Projekt verlangt nicht die Wiederherstellung der vorkolonialen Bedingungen dieses Landes, so wie ein Ökosystem nie in seinen „ursprünglichen“ Zustand zurückkehren kann, nachdem es der Toxizität ausgesetzt war. Stattdessen passt es sich an seine gegenwärtigen Bedingungen an und baut auf diese auf, sobald die Quellen der Toxine beseitigt worden sind. Die Notwendigkeit, auf den Ruinen des Kolonialismus aufzubauen, muss aber in Zusammenhang mit der enormen zeitlichen Dimension Indigener, auf das Land bezogenen Pflege- und Verwandtschaftspraktiken sowie den Millionen Jahren der Existenz von Ökosystemen gesehen werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die zwei bis fünf Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus als eine kleine Klammer, die nicht das A und O der Identität des Landes und seiner Bewohner:innen definieren sollte. Es bleibt zu hoffen, dass eine solche Behauptung als Versprechen für eine dekoloniale Zukunft und nicht als Verharmlosung kolonialer Gewalt gelesen werden kann.

Auszug aus: Léopold Lambert, „Decolonial Ecologies. Introduction“, The Funambulist, 1. Mai 2021