João Polido lebt und arbeitet in Lissabon, PT

 

Im 20. Jahrhundert stand Portugal über 48 Jahre hinweg unter autokratischer Herrschaft – die längste Diktatur Westeuropas. Anders als der eng mit der Moderne verbundene italienische Faschismus war seine portugiesische Variante im Hinblick auf die Moderne von Widersprüchen geprägt. Sie verschrieb sich einem ländlich-isolationistischen Ethos und bediente sich der Folklore – ein beliebtes Motiv der romantischen Kritik an der Moderne –, um eine nationale Identität zu schaffen. Das Regime gründete zu diesem Zweck die Junta Central das Casas do Povo, eine Aufsichtsbehörde für lokale Kulturzentren, um Musiktraditionen wie den Cante Alentejano zu pflegen. Der ursprüngliche Charakter der Folklore wurde dabei zwangsläufig verfälscht, denn die neuen Kulturinstitutionen zensierten alles, was anstößig oder unmoralisch erschien. Im Gegenzug förderten sie, was das Regime für patriotisch und tugendhaft hielt. An die Stelle des spontanen Ausdrucks traten im Rahmen neuer ästhetischer Vorgaben kontrollierte Darstellungsformen, was zur Auslöschung der nordafrikanischen und spanischen Einflüsse führte und eine ausgrenzende, starre Vorstellung von kultureller Identität hervorbrachte. Diese stereotypisierte Folklore hat sich so weit durchgesetzt, dass sie mittlerweile als ursprünglich gilt und den Status eines immateriellen Kulturerbes erlangt hat. Durch den Tourismus hat sie in den vergangenen Jahren sogar noch stärker an Bedeutung gewonnen, denn Tourist:innen konsumieren Identität. Doch die vom Estado Novo, dem Neuen Staat, in die portugiesische Folklore eingeschleusten ideologischen Elemente lenken die Kultur in Richtung eines aggressiven Nationalismus und imperialer Nostalgie. Zudem schüren sie soziale Spannungen sowie rassialisierte Konflikte.

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João Polido, Replica Song [Nachahmungslied], 2022, Installationsansicht, 12. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, 11.6.–18.9.2022, Foto: Silke Briel

João Polido greift diese Themen in seiner Klanginstallation Replica Song [Nachahmungslied, 2022] auf und bedient sich des Konzepts der Gegengeschichte, um die Debatten über Volkskultur und kulturelles Erbe auf eine neue Grundlage zu stellen und eine Vorstellung von Traditionen zu entwickeln, die der Vielfalt der Erfahrungen und den vielschichtigen Ursprüngen von Tradition und Geschichte gerecht wird.

Ana Teixeira Pinto

Ausstellungen

Sonsbeek20→24: Force Times Distance, On Labour and its Sonic Ecologies, 2021, Arnhem (NL)

Antechamber – live mixing of multi-channel sound installation throughout a durational performance, 2021, Ledreborg Palace, Ledreborg (DK)

Overlapses, Riddles & Spells – live music for Andreia Santana’s performance with António Poppe & Vânia Doutel Vaz within BoCA – Biennial of Contemporary Arts, 2021, CCB – Centro Cultural de Belém, Lisabon (PT)

Essay & mix for Leveza radio show, Rádio Quântica, Lisabon (PT) (solo)

Água Pública (Edit) – performance-lecture for Vulnerable Beings program, MAAT – Museum of Art, Architecture and Technology, Lisabon (PT) (solo)

Ruhr Ding: Territorien: Composition, 2019, Bochum (DE)