Ariella Aïsha Azoulay lebt und arbeitet in Pawtucket, auf dem nie offiziell abgetretenen Land der Narragansett und Wampanoag, US

Ariella Aïsha Azoulay bringt in The Natural History Of Rape [Die Naturgeschichte der Vergewaltigung, 2017/22] Texte und Fotografien zusammen, die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin entstanden sind, und untersucht, ob mit ihrer Hilfe die in dieser Zeit verübten Massenvergewaltigungen rekonstruiert werden können. Dabei geht es nicht um eine Relativierung des von Deutschland geführten Krieges. Vielmehr verweigert Azoulay mit dem Fokus auf geschlechtsspezifische Gewalt den Standpunkt nationaler Kollektive als bestimmenden Referenzpunkt.

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Ariella Aïsha Azoulay, The Natural History of Rape [Die Naturgeschichte der Vergewaltigung] (Detail), 2017/22, Vintage-Fotografien, Drucke, nicht aufgenommene S/W-Fotografien, Bücher, Essays, Zeitschriften, Zeichnungen, Maße variabel © Ariella Aïsha Azoulay

Auf der Grundlage ihrer jahrzehntelangen Arbeit zur Kompliz:innennschaft der Fotografie mit bestehenden oder entstehenden Herrschaftsordnungen interessiert sie sich für Aussagen, Bilder und Methoden, die binären Freund:in-Feind:inschemata entgegenstehen. So etwa, wenn sie die französische Schriftstellerin Marguerite Duras zitiert, die, während sie auf Nachricht von ihrem von den Nazis deportierten Mann wartet, sich die Trauer der deutschen Mutter eines getöteten Soldaten vorstellt. Die Gewalt des Krieges erscheint so als „universell unannehmbar“(1). Indem sich der Titel kritisch auf W. G. Sebalds Naturgeschichte der Zerstörung bezieht, weist die Arbeit auf die Normalisierung imperialer Herrschaftstechnologien hin, die so als natürlich erscheinen.

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Ariella Aïsha Azoulay, The Natural History of Rape [Die Naturgeschichte der Vergewaltigung], 2017/22, Installationsansicht, 12. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, 11.6.–18.9.2022, Foto: Silke Briel

 

In den mündlichen und schriftlichen Beschreibungen von Frauen, die 1945 in Berlin lebten, wird die in Schutt liegende Stadt unmittelbar mit der Schutzlosigkeit vor den Vergewaltigern assoziiert. Im fotografischen Archiv hingegen wird die Gewalt gegen Frauen kaum gezeigt. Azoulay vertritt, dass die Fotografien nicht als isolierte Quellen gelesen werden können, sondern einbezogen werden muss, dass zeitgleich an jenen Orten fotografiert wurde, an denen die Vergewaltigungen stattfanden. Aus diesem Grund müssten in Gegenden, „in denen systemische und allgegenwärtige Gewalt geherrscht hat, von der es keinerlei Fotos gibt, sämtliche Fotografien als Bilder eben dieser Gewalt aufgefasst werden.“(2) Azoulay greift in diese Dokumente ein, kommentiert, ersetzt, überlagert oder fügt hinzu, und schreibt dort so die Perspektiven der in der Stadt lebenden Frauen ein, die im fotografischen Archiv der mit dem Kriegsende etablierten neuen Weltordnung nicht vorkommen konnten.

Lotte Arndt

(1) Ariella Aïsha Azoulay, „Die Naturgeschichte der Vergewaltigung“, in: Jan Wenzel, Anne König (Hg.), The End of the World as We Know It ist der Beginn einer Welt, die wir nicht kennen, Leipzig 2016, S. 107.
(2) Ebd., S. 105

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Ariella Aïsha Azoulay, The Natural History of Rape [Die Naturgeschichte der Vergewaltigung] (Detail), 2017/22 , Vintage-Fotografien, Drucke, nicht aufgenommene S/W-Fotografien, Bücher, Essays, Zeitschriften, Zeichnungen, Maße variabel © Ariella Aïsha Azoulay

Ausstellungen

Errata, 2019, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona (ES) & Haus der Kulturen der Welt, Berlin (DE) (solo)

Act of State 1967–2007, 2016/2020, Le centre national d’art et de culture Georges-Pompidou, Paris (FR) und Arquivo Municipal de Lisboa Fotográfico, Lisabon (PT) (solo)

Enough! The Natural Violence of New World Order, 2016, f/stop – Festival für Fotografie Leipzig, Leipzig (DE)

Really Useful Knowledge, 2014, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (ES)

Potential History, 2012, STUK/Artefact, Leuven (BE)

Untaken Photographs, 2010, Moderna galerija Ljubljana, Ljubljana (SI) und Zochrot, Tel Aviv (IL) (solo)